Ästhetischer Semikognitivismus

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ABSTRACT: Als ästhetischer Semikognitivismus soll hier ein metaästhetischer Standpunkt bezeichnet werden, welcher zwar von der Wahrheitsdefinitheit ästhetischer Werturteile ausgeht, allerdings deren intersubjektive Überprüfbarkeit bestreitet. Damit wird es möglich, trotz Annahme eines gemäßigten erkenntnistheoretischen Konstruktivismus und eines moderaten wissenschaftstheoretischen Relativismus, ästhetische Werturteile einerseits und einfache Wahrnehmungsurteile, sowie wissenschaftliche Theorien andererseits hinsichtlich ihrer Objektivierbarkeit zu unterscheiden. Diese Einsicht, die durch die tatsächliche Produktionssituation in Kunst und Wissenschaft empirisch bestätigt wird, ermöglicht ein realistisches Verständnis ästhetischen Wertens und Erfahrens.

Der hier vorzustellende ästhetische Semikognitivismus ist eine metaästhetische Position hinsichtlich der Objektivierbarkeit ästhetischer Wertungen, die sich zwischen den tradierten Auffassungen des Nonkognitivismus und des Kognitivismus befindet. Sei "Fa" eine sprachliche Äußerung der Art, dass der Gegenstand a die ästhetische Eigenschaft F habe, also zum Beispiel die, "schön" oder "ausdrucksvoll" zu sein. Aus kognitivistischer Sicht würde es sich hierbei um eine echte und somit wahrheitsdefinite Aussage handeln. Der Wahrheitsgehalt derselben wäre aus dieser Perspektive grundsätzlich in derselben Weise objektiv bestimmbar, wie beispielsweise der einer wissenschaftlichen Hypothese. Ein Nonkognitivist dagegen würde "Fa" als nicht wahrheitsdefinit bezeichnen und folglich gar nicht als Aussage ansehen. "Fa" hätte aus letzterer Sicht beispielsweise lediglich expressiven oder empfehlenden Charakter.1 In der folgenden Argumention soll nun in Analogie zur Position Trapps in der Ethik ein ästhetischer Semikognitivismus als erkenntnistheoretisch sinnvollste Rekonstruktion ästhetischer Werturteile dargestellt werden.2

Dazu ist zunächst die Wahrheitsfrage hinsichtlich ästhetischer Wertungen näher zu betrachten. Geht man von der später noch zu begründenden Prämisse aus, dass Wahrheit nicht per se objektiv ist, sondern es auch wahre Sachverhalte geben kann, deren Vorliegen nur subjektiv überprüfbar ist, gliedert sich die Wahrheitsfrage im üblichen Sinne in zwei Teile:3

1. Die eigentliche Wahrheitsfrage im engeren Sinne

Die Beantwortung der Wahrheitsfrage im engeren Sinne besteht darin nachzuweisen, ob es einen semantischen Apparat gibt, mit dem sich ästhetischen Werturteilen Wahrheitswerte zuweisen lassen.

2. Die Objektivitätsfrage

Für die Beantwortung der Objektivitätsfrage hingegen ist es nötig zu untersuchen, inwieweit diese Wahrheit objektiv überprüfbar ist. Mithin setzt die Untersuchung der Objektivitätsfrage voraus, dass die Wahrheitsfrage im engeren Sinne bereits bejaht wurde; andernfalls entfällt sie von vornherein.

Anhand dieser sonst kaum getroffenen Unterscheidung lassen sich Nonkognitivismus und Kognitivismus wie folgt charakterisieren: Der Nonkognitivismus verneint demnach bereits die Wahrheitsfrage im engeren Sinne und entledigt sich damit zugleich der Notwendigkeit, die Objektivitätsfrage untersuchen zu müssen. Der Kognitivismus dagegen bejaht die Wahrheitsfrage im engeren Sinne und die Objektivitätsfrage. Der hier vorzustellende Semikognitivismus bejaht zwar die Wahrheitsfrage im engeren Sinne, ist angesichts der Objektivitätsfrage allerdings dadurch gekennzeichnet, dass er von einer nur sehr beschränkten Objektivierbarkeit ästhetischer Werturteile ausgeht. Zur Begründung dieser Position ist folglich nachzuweisen, wie ästhetische Werturteile als wahr oder falsch auszuzeichnen sind und wieso diese Wahrheit nicht unbedingt objektiv erkennbar ist. Die erkenntnistheoretische Basis bildet dabei ein hypothetischer Realismus der "...Erfahrungserkenntnis als inputverabeitende Konstruktion von bloß symbolisch repräsentierter Wirklichkeit..." begreift.4 Geht man weiterhin von einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff aus, ergibt sich die Notwendigkeit der hier vorgenommenen Unterscheidung zwischen Objektivitäts- und Wahrheitsfrage im engeren Sinne bereits aus der erkenntnistheoretischen Neutralität der ursprünglichen Tarskischen Definition:

Der Satz "p" ist wahr genau dann, wenn der Sachverhalt p tatsächlich vorliegt.

Damit ist nichts darüber ausgesagt, wie das Vorliegen einer Tatsache festgestellt werden kann; Tatsachen liegen nicht einfach vor, sondern werden von dem jeweiligen Erkenntnissubjekt konstruiert - von wissenschaftlichen Experimenten über Beobachtungen, philosophische Analyse, Bibelexegese bis hin zur Eingeweideschau durch einen Seher ist grundsätzlich alles möglich. Demzufolge ist die ästhetische Aussage Fa wahr genau dann, wenn a die Eigenschaft F tatsächlich hat, ohne dass diese Definition auf ein bestimmtes Verfahren zur Tatsachenfeststellung festgelegt wäre.

Die ästhetische Wertung, "das Gemälde G von Yves Klein ist schön", ist damit ebenso wie das Wahrnehmungsurteil, es sei blau, wahr genau dann, wenn der behauptete Sachverhalt tatsächlich vorliegt. Erstere Aussage subsumiert das Bild unter die Klasse der schönen und letztere unter die Klasse der blauen Gegenstände. In beiden Fällen handelt es sich um wahrheitsdefinite Aussagen. Ästhetische Bewertungen von Einzeldingen in Zeit und Raum sind mithin als wahrheitsdefinit zu betrachten. Dabei können, wie an anderer Stelle ausführlich begründet, auch ästhetische Objekte wie Theateraufführungen, literarische oder musikalische Werke, sowie Installationen, Environments oder Multiples und Werke der Konzeptkunst prinzipiell als Einzeldinge in Zeit und Raum betrachtet werden.5

Etwas schwieriger ist die Situation im Falle der ästhetischen Bewertung von Sachverhalten; in Anlehnung an die konditionale Semantik von Lewis oder Stalnaker läßt sich die Wahrheit derartiger Urteile wie folgt definieren:6

Eine Aussage der Art, "es ist F, dass A" ("es ist ästhetisch vorteilhaft, dass das Bild b an Ort O präsentiert wird") ist wahr genau dann, wenn gilt, dass alle der wirklichen Welt W0 maximal ähnlichen Welten W, in denen (A gilt, ästhetisch weniger gut sind, als die maximal ähnlichen Welten, in denen A vorliegt. W0 maximal ähnliche A-Welten sind dabei die möglichen Welten, die sich von W0 nur dadurch unterscheiden, dass in ihnen A und, um Inkonsistenzen zu vermeiden, alle durch A implizierten Tatsachen tatsächlich vorliegen. Ist der Sachverhalt A bereits in W0 eine Tatsache, so ist W0 natürlich die sich selbst maximal ähnliche Welt.7 Mit diesem semantischen Apparat läßt sich auch die Wahrheit komparativer ästhetischer Bewertungen von Sachverhalten bestimmen. Der Satz "der Sachverhalt A ist ästhetisch wertvoller als der Sachverhalt B" ist in W0 wahr genau dann, wenn die W0 maximal ähnlichen A-Welten ästhetisch wertvoller sind als die W0 maximal ähnlichen B-Welten.

Die dritte mögliche Form ästhetischer Werturteile sind ästhetische Gebote; beispielsweise, dass es geboten sei, als stark übergewichtige Person keine hautengen Jogginganzüge zu tragen. Die Wahrheit derartiger ästhetischer Gebote läßt sich mit Hilfe der deontischen Logik definieren - das Gebot O(A) ist in W0 wahr genau dann, wenn gilt, dass A in allen vorstellbaren, technisch realisierbaren und ästhetisch perfekten Welten eine Tatsache ist. Es ist wahr, dass stark übergewichtige Personen keine hautenge Joggingkleidung tragen sollten, wenn in allen vorstellbaren, technisch realisierbaren und ästhetisch perfekten Welten, korpulente Menschen sich tatsächlich nicht figurbetont kleiden. Das entsprechende Gebot ist damit wahrheitsdefinit, das heißt es kann sinnvoll als wahr oder falsch bezeichnet werden.8

Die Wahrheitsdefinitionen für normative ästhetische Aussagen in Form von Urteilen über Einzeldinge in Raum und Zeit, über Sachverhalte oder in Form ästhetischer Gebote enthalten ihrerseits offensichtlich immer eine wertende Komponente im Definiens. Hinsichtlich der Objektivitätsfrage als der zweiten Komponente der Wahrheitsfrage im üblichen Sinne ist also zu untersuchen, ob hier die intersubjektiv übereinstimmende Erkennbarkeit der Wahrheitswerte im gleichen Sinne gegeben ist, wie im Falle nichtwertender empirischer Urteile, beispielsweise des Wahrnehmungsurteiles, dass ein Gegenstand blau ist.

Unzweifelhaft ist alleine aufgrund der empirischen Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung, dass jede Form der Wahrnehmung eine Hypothese des Wahrnehmenden ist und wesentlich auf dessen physischen Fähigkeiten, seinem Wissen, seinen Erfahrungen, Erwartungen und Wünschen beruht.9 Dennoch lassen sich im Falle des Wahrnehmungsurteils gewisse standardisierte Wahrnehmungsbedingungen und ein normaler Beobachter - im Sinne eines erwachsenen Erkenntnissubjektes mit "kognitiver Normalausstattung", das heißt ohne einen kognitiven Defekt - definieren und damit ein gewisses Maß an intersubjektiver Überprüfbarkeit erreichen. Diese Festlegungen könnten durchaus als ein Akt der Willkür betrachtet werden. Dennoch erscheint es intuitiv plausibel und hat sich aus praktischen Erwägungen heraus auch als sinnvoll erwiesen, die Beurteilung der Farbe eines Gegenstandes bei Tageslicht durch einen nüchternen und nicht farbenblinden Beobachter vornehmen zu lassen, dem man auch nicht DM 10.000,- für die Aussage versprochen haben sollte, das Bild sei orange. Unter diesen Umständen wird für Wahrnehmungsurteile zweifelsohne ein hohes Maß an Übereinstimmung erreichbar sein.

Welche derartigen Standardisierungen aber gibt es für ästhetische Werturteile? Auf jeden Fall ist eine kategoriale Idealisierung der Urteilssituation im Sinne Trapps durchzuführen.10 Das heißt der Wertende sollte sich bemühen, sein Urteil von allen die eigentliche Urteilsdimension überlagernden Aspekten und Affekten zu bereinigen. Ist ein Kunstwerk zu beurteilen, so sollte sich der Kritiker, um ein extremes Beispiel zu bemühen, im Idealfall weder davon beeinflussen lassen, dass ihm der Künstler gerade die Frau ausgespannt oder das Leben gerettet hat. Unter diesen Bedingungen wäre nun also die Frage zu klären, ob die ästhetischen Werturteile zweier Erwachsener mit normalem Erkenntnisapparat, ohne Beeinträchtigung des Wahrnehmungsapparates und bei gleichem Wissenstand hinsichtlich aller für die vorzunehmende Beurteilung relevanten Aspekte übereinstimmen. Mit anderen Worten, reichen - anders als Kant meint - die intersubjektiv übereinstimmenden kognitiven Komponenten, also sozusagen die kognitive Normalausstattung der Menschen aus, um zu übereinstimmenden Werturteile zu führen?11 Insbesondere sollte untersucht werden, ob sich selbst unter oben angegebenen Bedingungen abweichende ästhetische Wertungen in ähnlicher Weise auf kognitive oder besser gesagt evaluative Defekte zurückführen lassen, wie dies im Falle einfacher Wahrnehmungsurteile möglich ist. Etwas überspitzt formuliert geht es hier um die Frage, ist es eine organisch, evolutiv oder zumindest sozial bedingte Tatsache, dass in den vorstellbaren, technisch realisierbaren und ästhetisch perfekten Welten aller Menschen korpulente Personen keine figurbetonte Kleidung tragen?

So ist es im Allgemeinen ohne weiteres durchführbar, einer Versuchsperson, die nicht erkennt, dass das Bild Yves Kleins blau ist, obgleich die Betrachtung bei einer normalen Lichttemperatur und auch in jeder sonstigen Hinsicht optimalen Beobachtungsbedingungen stattfindet, nachzuweisen, dass sie farbenblind ist. Zur Erklärung solcher kognitiver Defekte existieren wiederum geeignete Theorien, die es im Idealfall sogar dem Betroffenen verständlich machen können, warum sein Wahrnehmungsurteil falsch sein muß. Anders im Fall der ästhetischen Bewertung des Werkes Yves Kleins - sie beruht nicht auf der kognitiven Normalausstattung des Wertenden, sondern auf subjektiven ästhetischen Präferenzen, für die keine derartigen mögliche "evaluativen Defekte" erklärenden Theorien existieren.

Ein mögliches Argument gegen diese hier vertretene Ansicht ist die Annahme, unsere Wertdispositionen seien zumindest zum Teil objektiv, da sie sich in der Onotogenese anhand gegenständlicher Erfahrung ausbilden würden.12 Allerdings müßte ein Vertreter dieser Ansicht zunächst noch den Nachweis erbringen, dass gleiche oder ähnliche Erfahrungen auch zur Entwicklung gleicher oder zumindest ähnlicher Dispositionen führen. Die Onotogenese beginnt mit einem Satz - zum Teil bereits interindividuell unterschiedlicher - elementarer Vorlieben. Diese beruhen letztlich auf den genetisch determinierten neuronalen Schaltkreisen, die für die basale Regulation des homöostatischen Gleichgewichts innerhalb des Organismus zuständig sind. Von da an wirken von Individuum zu Individuum andersgeartete Einflüße auf das Subjekt. Diese beeinflussen das weitere Wertverhalten desselben. Piaget hat hierbei bereits für die kognitive Entwicklung nachhaltig zeigen können, dass weder phylogenetisch festgelegte Reifungsprozesse, noch äußere Einflüsse ausreichen, diese zu erklären. Ein weiterer Faktor spielt hier eine wesentliche Rolle, nämlich der der Äquilibration, das heißt das Bestreben des Organismus, ein Gleichgewicht zwischen der Assimilation (dem Einverleiben äußerer Ereignisse in bereits bestehende Schemata) und der Akkomodation (dem Anpassen und Neugestalten dieser Schemata) zu erhalten. Angesichts der Komplexität menschlichen Wertverhaltens ist wohl auch hier - vermutlich sogar in noch höherem Maße - diese Selbstorganisation der maßgebliche Entwicklungsfaktor.

Aufgrund der massiv parallelen Verschaltung der Neuronen, den vielen Rückkopplungsschleifen und dem nichtlinearen Anwortverhalten bereits auf der Ebene einzelner Neuronen liegt die Vermutung sehr nahe, dass das menschliche Gehirn in einem mathematischen Sinne chaotisch strukturiert ist.13 Deterministisch chaotische Systeme aber weisen eine extrem hohe Sensitivität für beliebig kleine Änderungen der Rand- und Ausgangsbedingungen auf (der sogenannte Schmetterlingseffekt). Dies unterstreicht die Annahme der Subjektrelativität ästhetischer Wertungen. Während bei Wahrnehmungsurteilen der ständige sensorische Input für eine Normierung unserer neuronalen Repräsentationen sorgt, existiert kein entsprechendes "Wertwahrnehmungsorgan", welches uns erlauben würde, unsere Werterfahrungen in ähnlicher Weise wie unsere Wahrnehmungen zu korrigieren. Einzig der Einfluß des sozialen Umfeldes, innerhalb dessen ein Mensch aufwächst, sorgt für eine gewisse, wenngleich nur mittelbare Normierung seiner ästhetischen Präferenzen.

Allerdings gibt es wohl niemanden, der ernsthaft behaupten würde, alle unsere Wertempfindungen seien objektiv. Geht man aber davon aus, dass es sowohl rein subjektive, als auch objektive Wertempfindungen gibt, stellt sich angesichts des hier Gesagten die Frage, wie die einen von den anderen zu unterscheiden sein sollen. Die Wertdispositionen einer Person lassen sich letztlich nur anhand konkreter Wertempfindungen und Werturteile feststellen. Somit kann diese Person selbst nicht - geschweige denn ein Außenstehender - unterscheiden, welche Wertempfindungen ihren objektiven Wertdispositionen entsprechen und damit wahr sind. Es ist damit also noch nicht einmal subjektintern feststellbar, welche Wertempfindungen überhaupt "objektive Werterkenntnisse" sind. Darum soll im folgenden davon ausgegangen werden, dass Wertempfindungen in deutlicher stärkerer Weise subjektrelativ sind, als elementare Sinneswahrnehmungen.

Einwände der Art, dass es aber doch möglich sei, die Schönheit eines Bildes zu erkennen, ohne dass es einem gefalle, beruhen lediglich auf einer unzureichenden kategorialen Idealisierung und haben nichts mit subjektunabhängiger Werterkenntnis zu tun. Solche Urteile basieren meist auf einer Vermischung unterschiedlicher Wertdimensionen der Art, dass der Betreffende beispielsweise zwar den künstlerischen Wert eines Werkes hoch schätzt, sich aber zugleich nicht vorstellen kann, es in seiner Wohnung aufzuhängen. Habe ich mir den Magen verdorben, kann ich von einer Mahlzeit zu recht sagen, sie sei eigentlich sicher wohlschmeckend, munde mir aber jetzt nicht - nur hat dies nichts damit zu tun, dass die Speise an sich, unabhängig von jeder sie kostetenden Person, wohlschmeckend sei.

Ein ästhetischer Wertungskognitivist könnte allerdings diesen Annahmen zustimmen, ohne seine grundsätzliche Überzeugung aufzugeben. Dazu müßte er lediglich darauf verweisen, dass wissenschaftliche Hypothesen, denen wohl keiner ihren kognitiven Charakter absprechen wollen wird, ebenfalls nicht in einem starken Sinne als objektiv betrachtbar sind, sondern gleichfalls in mehrfacher Hinsicht subjektrelativ seien. Zugegebenermaßen hängt die Wahrheit wissenschaftlicher Hypothesen tatsächlich von der Hintergrundtheorie und der verwendeten Sprache ab.

Allerdings besteht dennoch ein wenn auch nicht grundsätzlicher so doch gradueller Unterschied zur Objektivierbarkeit ästhetischer Werturteile. Wissenschaftliche Theorien beruhen letztlich - und sei es am Ende einer langen Meßkette - auf einfachen Wahrnehmungen, auf Beobachtungen bei denen ein normaler Beobachter unter standardisierten Bedingungen weitestmöglich von allen rein subjektiven Aspekten abzusehen hat. Dies ermöglicht die theorieneutrale Überprüfung konkurrierender Hypothesen durch ein Experiment, wenn sich deren Vertreter auf die Neutralität der verwendeten Meßverfahren hinsichtlich der zu überprüfenden Theorien einigen können. Außerdem sind wissenschaftliche Theorien im Sinne Trapps prinzipiell offen.14 Damit ist gemeint, dass jeder normale Beobachter unter hypothetischer Zugrundelegung aller notwendigen Prämissen in der Lage ist, alle die Erfahrungen zu machen, die die Theorie bestätigen (oder gegebenenfalls widerlegen).

Weder theorieneutrale Überprüfbarkeit noch prinzipielle Offenheit aber eignen unseren Präferenzsystemen. Auch wenn ich die ästhetischen Wertdispositionen eines anderen als gegeben annehme, werde ich nicht notwendigerweise dieselben Wertempfindungen in mir verspüren. Ich kann mir durchaus vorstellen, welche Vorlieben ein begeisterter Anhänger des "Musikantenstadl" haben mag; ich kann möglicherweise Schlüsse auf seine sonstigen ästhetischen Präferenzen ziehen und vielleicht sogar die Richtigkeit seiner Dispositionen hypothetisch voraussetzen - aber ich werde dennoch nicht in mir dieselbe Begeisterung für diese Musik oder gar den Drang zum Schunkeln und Mitsingen verspüren. Ebensowenig wird dieser vermutlich meine Begeisterung für die Musik von Tom Waits teilen. Grundsätzlich sind ästhetische Wertsysteme nicht gleichermaßen frei wählbar wie theoretische Positionen. Gleichzeitig sind sie auch nicht durch genetische Determinierung intersubjektiv hinreichend übereinstimmend ausgeprägt, als dass sie sinnvollerweise als objektiv bezeichnet werden können.15 Der evolutionäre Sinn der unseren ästhetischen Präferenzen zugrunde liegenden neuronalen Schaltkreisen ist gerade die extrem feine Anpassung des Wahrnehmungs- und Entscheidungsapparates an die individuellen Lebensbedingungen des jeweiligen Subjektes.16

Die Schlüssigkeit obiger Argumente vorausgesetzt, muß damit die Objektivitätsfrage verneint werden: Selbst wenn man die Gültigkeit eines moderaten erkenntnistheoretischen Relativismus zugesteht - welcher angesichts der Fülle empirischer Belege für den hypothetisch konstruierenden Charakter der Wahrnehmung und der Bedeutung der verwendeten Sprache und Hintergrundtheorie für die Wahrheit für die Wahrheit wissenschaftlicher Hypothesen als die derzeit sinnvollste Position angesehen werden muß - sind ästhetische Werturteile nicht in der gleichen Weise objektivierbar, wie elementare Wahrnehmungsurteile oder wissenschaftliche Hypothesen. Die Wahrheit letzterer ist zumindest in einem schwachen Sinne objektiv, nämlich intersubjektiv erkennbar. Die Wahrheit ästhetischer Wertungen indes ist unter Umständen nur dem Subjekt zugänglich, welches die betreffenden Wertempfindungen in sich vorfindet. Dies entspricht der Annahme, dass die ästhetisch perfekten möglichen Welten intersubjektiv unterschiedlich ausfallen. Das im vorigen als Beispiel verwendete ästhetische Gebot, dass Beleibte sich nicht figurbetont kleiden sollten, mag für manche Menschen wahr sein und für andere nicht. Betrachtet man die Frauengestalten Rubens oder gar die als "Venus von Willendorf" bezeichnete neolithische Kleinplastik, so wird deutlich, dass die wahren ästhetischen Präferenzen nicht für alle Zeiten und Subjekte dieselben sein müssen.

Eine ganz andere Frage ist die, inwieweit es möglich ist, sich hinsichtlich seiner eigenen ästhetischen Werturteile zu irren. In bezug auf meine eigenen aktuellen Wertempfindungen ist sicherlich kein Irrtum möglich. dass ich jetzt gerade den Raum, in dem ich mich aufhalte, als behaglich empfinde, ist sicherlich ein Sachverhalt, dessen Vorliegen mir, ebenso wie meine eigenen Glaubensinhalte oder meine Kopfschmerzen unmittelbar einsichtig ist und der darum im selben Sinne wie diese als unproblematisch bezeichnet werden kann. Mein ästhetisches Werturteil betrifft aber nicht nur meine aktuellen subjektinternen Empfindungen, sondern bezieht sich auf einen Gegenstand. Damit ist auch ein Irrtum grundsätzlich möglich. Nach einer gewissen Verweildauer in dem oben erwähnten Raum mag es sein, dass ich etwas entdecke, was ich zuvor übersehen habe und was mich nötigt, mein Urteil zu revidieren. Oder eine Element des Einrichtungsstils, welches ich zuvor als originell empfunden habe, beginnt sich als aufdringlich und nervend zu erweisen. Nicht umsonst ist es für Kunstschaffende schwierig, ihre aktuellen Arbeiten zu beurteilen. Für viele ist es ein wichtiger Qualitätstest, inwieweit das zu bewertende Werk auch nach längerer Betrachtung noch "dem Blick standhält". Selbst nicht wahrnehmbare Fakten, wie die Tatsache, dass es sich bei einer Arbeit nicht um das Original, sondern eine handwerklich perfekte Fälschung handelt, beeinflussen das ästhetische Werturteil maßgeblich.17 So kann es beispielsweise ein Fehler gewesen sein, einen kunsthandwerklichen Gegenstand um seiner Originalität willen wertzuschätzen, wenn sich herausstellt, dass es sich um ein übles Plagiat handelt.

Welchen heuristischen Wert aber hat der hier beschriebene ästhetische Semikognitivismus? Auf diese Frage lassen sich gleich mehrere Antworten geben. Rein methodologisch erlaubt erst der Nachweis der Wahrheitsdefinitheit ästhetischer Werturteile es überhaupt, philosophische Ästhetik zu betreiben. Andernfalls würde sich diese im metaästhetischen Konstatieren der fehlenden Wahrheitsfähigkeit erschöpfen, womit ästhetische Werturteile keine Aussagen wären. Der hier vorgeschlagene Semikognitivismus erlaubt es darüber hinaus, die auf subjektiver Ebene nicht zu unterschätzende kognitive Relevanz ästhetischer Wertungen und ästhetischen Erlebens zu erfassen, ohne sie emphatisch für gleichermaßen objektiv wie wissenschaftliche Beobachtungen zu verklären. Der damit einhergehende Begriff subjektiver Wahrheit vermag nur zu irritieren, geht man implizit davon aus, Wahrheit sei per se objektiv. Diese Annahme ist aber keinesfalls zwingend. Statt dessen liegt es in der Natur der hier vorgeschlagenen korrespondenztheoretischen Wahrheitsdefinition, dass sie hinsichtlich der anzuwendenen Verfahren zur Tatsachenfeststellung neutral ist - mithin sind auch nur subjektiv zugängliche Verfahren wie die Introspektion statthaft.

Der vielleicht manchem eigentümlich anmutende semikognitivistische Charakter ästhetischer Werturteile vermag zudem einige Besonderheiten und Unterschiede der künstlerischen im Gegensatz zur wissenschaftlichen Praxis zu erklären. So verdanken die Wissenschaften ihren enormen Fortschritt neben der steigenden Kommunikationsgeschwindigkeit nicht zuletzt auch der arbeitsteiligen Forschung, welche wesentlich auf den beschriebenen Standardisierungen und Konventionen der Wahrnehmungssituation beruht. Damit eignen sich wissenschaftliche Theorien in hohem Maße dazu, die intersubjektive Welt zu beschreiben. Wichtig ist dabei allerdings anzumerken, dass letztere eine Abstraktion darstellt, eine Art Durchschnitt durch alle subjektiven Welten. Bei ihrer Konstruktion ist von allen rein subjektiven Faktoren abzusehen; sie beruht auf der distanzierten Wahrnehmungsweise des Beobachtens. Ästhetische Erfahrung dagegen ist eine Form des Erlebens und wird als solche nicht nur vom Wissen und den Erwartungen des Betrachter, sondern wesentlich von vorbewußten emotionalen Bewertungsmechanismen konstituiert, wie sie Teil eines jeden Wahrnehmungsvorganges sind.18 Als Konsequenz ist jeder Wahrnehmungsgegenstand im Augenblick des Gewahrwerdens bereits hinsichtlich seiner Bedeutsamkeit für den jeweiligen Wahrnehmenden bewertet. Diese Bedeutungshaftigkeit ist der Grund, dass wir die Objekte um uns herum nicht neutral, sondern als ausdruckshaft erfahren. Während wissenschaftliches Beobachten eine Abstraktion gerade von diesen Ausdrucksqualitäten darstellt, stehen sie im ästhetischen Erleben im Mittelpunkt. Die Eleganz und Gefährlichkeit eines Tigers werden sicherlich nicht in demselben Maße Gegenstand einer ethologischen Untersuchung dieser Spezies sein, wie sie es beim Einsatz einer "Tiger-Metapher" in einem Gedicht sind - auch wenn das ästhetische Erleben beim Beobachten dieser Großkatzen durchaus die zentrale Motivationquelle für den Ethologen darstellen mag.

Betrachtet man Kunst als die Möglichkeit, die der Alltagssprache sich entziehenden subjektiven Elemente des Erlebens kommunizierbar zu machen, so verwundert es kaum, dass der künstlerische Produktionsprozeß in unserer Gegenwart, von allen anderen Funktionen befreit (oder ihrer beraubt?), im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung durch eine hochgradig individualistische Tendenz gekennzeichnet ist. Es existieren keine allgemeinverbindlichen Standardisierungen, kaum Gruppenbildungen und die gesellschaftliche Bedeutung ist marginal - zumindest im Vergleich mit dem Einfluß, den die kommerziellen Medien heute ausüben.

Bei einer kognitivistischen Interpretation ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Werturteile bestünde hinsichtlich dieser Phänomene einiger Erklärungsbedarf. Eine nonkognistivistische Auffassung dagegen würde die gängige ästhetische Praxis, die vorhandenen Differenzen, Streitigkeiten und Debatten zu einem reinen Scheinproblem erklären. Die Möglichkeit, zu argumentieren und andere zu überzeugen, würde aus dieser Sichtweise auf bloßes Drängen und Überreden reduziert. Der hier vorgeschlagene ästhetische Semikognitivismus dagegen ist mit all diesen Besonderheiten ästhetischen im Gegensatz zu wissenschaftlichem Arbeiten ohne weiteres vereinbar.


 

Alexander Piecha im Mai 2000


 

Literatur:

Ciompi, Luc: "Die emotionalen Grundlagen des Denkens", Göttingen 1997
Corino, Karl (Hg.): "Gefälscht", Frankfurt am Main 1990
Damasio, Antonio R.: "Descartes Irrtum", München 1997
Kutschera, Franz von: "Grundlagen der Ethik", Berlin, New York 1982
Kant, I.: "Kritik der Urteilskraft", Stuttgart 1963
Kobbert, M. J.: "Kunstpsychologie: Kunstwerk, Künstler und Betrachter", Darmstadt 1986
Kutschera, Franz von: "Ästhetik", Berlin 1988
Piecha, Alexander: "Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile", 1999, (Dissertation, publiziert unter: http://elib.uni-osnabrueck.de/dissertations/philosophy/A.Piecha/)
Trapp, Rainer W.: "Nicht-klassischer Utilitarismus: eine Theorie der Gerechtigkeit", Frankfurt am Main 1988
Trapp, Rainer W.: "Sind moralische Aussagen objektiv wahr?", Festschrift für F. v. von Kutschera, hg. von W. Lenzen, Sonderdruck aus "Perspetiven der Analytischen Philosophie", hg. von G. Meggle & J. Nida-Rümelin, Berlin, New York 1997


 

Endnoten:

1 Vergl. die entsprechenden Darlegungen in Trapp 1988, 1997 und in von Kutschera 1988?

2 Siehe Trapp (1988) und derselbe (1997)

3 Siehe Trapp (1988) und derselbe (1997), wo diese ansonsten unübliche, aber sinnvolle Differenzierung eingefüht wird.

4 Zitat aus Trapp (1988), Seite 101, für eine ausführlichere Begründung dieser Position siehe dort oder auch in Piecha (1999), Kap. 1 und Kap. 5

5 Piecha (1999), Seite 150ff

6 Für Details siehe R. Stalnaker, "A Theory of Conditionals" und D. Lewis ""Causation", beide in Sosa (1975), Seiten 165 - 179

7 Unberücksichtigt bleibt dabei die durchaus richtige Einsicht, dass wir in den meisten Fällen gar nicht wissen, welche Umstände aktuell gerade vorliegen, das heißt welche der möglichen Welten eigentlich die wirkliche Welt W0 ist. Eine entsprechende Modifikation wäre zwar ohne weiteres möglich, würde dieses aber wesentlich komplizieren, ohne an dem Ergebnis etwas zu ändern.

8 Siehe beispielsweise Trapp (1997)

9 Eine ausführliche Darlegung findet sich in Piecha (1999)

10 Trapp (1988)

11 Kant kann als ein Vertreter einer diese Frage bejahenden Ansicht interpretiert werden, sagt er doch in seiner Kritik der Urteilskraft (1963, Seite 208ff) "... Schönheit ist kein Begriff vom Objekt und das Geschmacksurteil ist kein Erkenntnisurteil. Es behauptet nur: dass wir berechtigt sind, dieselben subjektiven Bedingungen der Urteilskraft allgemein bei jedem Menschen vorauszusetzen, die wir in uns antreffen; und nur noch, dass wir unter diese Bedingungen das gegebene Objekt richtig subsummiert haben. (...) Diese Lust [am Schönen] muß daher notwendig bei jedermann auf den nämlichen Bedingungen beruhen, weil sie subjektive Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt sind, und die Proportion dieser Erkenntnisvermögen, welche zum Geschmack erfordert wird auch zum gemeinen und gesunden Verstande erforderlich ist, den man bei jedermann voraussetzen darf. Eben darum darf auch der mit Geschmack Urteilende (wenn er nur in diesem Bewußtsein nicht irrt, und nicht die Materie für die Form, Reiz für die Schönheit nimmt) die subjektive Zweckmäßigkeit, d. i. sein Wohlgefallen am Objekte jedem anderen ansinnen, und sein Gefühl als allgemein mitteilbar, und zwar ohne Vermittlung der Begriffe annehmen. ..."

12 Franz von Kutschera beispielsweise vertritt in (1988) eine solche Position

13 Siehe Ciompi (1997) oder Walter (1998)

14 Siehe Trapp (1988)

15 Natürlich wäre es ohne weiteres möglich, die Bedingungen für Objektivität so weit zu fassen, dass auch ästhetische Werturteile objektiv sind - allerdings würde dies den Objektivitätsbegriff über Gebühr aufweichen. Das Gegenteil wären derart restriktive Objektivitätskriterien, denen noch nicht einmal wissenschaftliche Beweise genügen könnten. Beide Bestimmungen von Objektivität werden weder durch den alltäglichen Sprachgebrauch gedeckt, noch sind sie heuristisch sinnvoll.

16 Vergleiche meine Ausführungen hierzu in Piecha (1999)

17 Siehe Kobberts Unterscheidung zwischen der internen und der externen Struktur ästhetischer Objekte in (1986) oder auch meine Überlegungen in Piecha (1999). Interessante Beispiele für den kollektiven Wandel ästhetischer Urteile gegenüber entlarvten Fälschungen finden sich in Corino (1990)

18 Eine empirisch fundierte Erklärung dieser Mechanismen liefert A. Damasio mit seiner Theorie der somatischen Marker. Vergleiche derselbe in (1997) und auch meine Reinterpretation dieser Theorie für ästhetisches Erleben in Piecha (1999).


 

Dr. phil. Alexander Piecha
(Medien-)Künstler und Philosoph
Bürgermeister-Steinkamp-Str. 9
D-49565 Bramsche
Tel.: +49 (0) 5468 - 939064
Email: mail@apiecha.de

Alexander Piecha im September 2000

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