Den folgenden Vortrag hielt ich auf Einladung Studierender am 17.12.01 im Rahmen der Kunsttage bei den Kunstpädagogen an der Universität Osnabrück. Zum Ausdrucken können Sie auch eine PDF-Version herunterladen (ca. 35 kB).


 

BilderWirklichkeiten,

...ein zunächst harmloses, aber bei näherer Betrachtung seltsam zusammengesetztes Wort, welches Thema meines Vortrages sein soll.

Als mich ein Studierender des Faches Kunst/Kunstpädagogik vor ca. drei Wochen mit der Frage an mich herantrat, ob ich mir wohl vorstellen könnte, heute hier im Rahmen der Kunsttage zu diesem Thema einen Vortrag zu halten, da mußte ich nicht lange überlegen. Zum einen habe ich selbst hier in diesem Hause studiert und zum anderen gilt meine Leidenschaft sowohl der Beschäftigung mit Bildern als auch mit Wirklichkeiten. Einerseits produziere ich selbst auch Bilder, andererseits beschäftige ich mich als Philosoph hauptsächlich mit den beiden Gebieten der Philosophie der Kunst und der Philosophie des Geistes.

Lassen Sie uns zwecks besserer Verständlichkeit einmal eine Trennung vornehmen:

Bilder und Wirklichkeiten

Bilder gibt es überall, sie umgeben uns und manch einer spricht bereits von einer Bilderflut, in der wir ertrinken. Was ein Bild ist, scheint uns allen eigentlich klar. Auch wenn sich manch ein Philosoph noch mit einer exakten Definition des Bildbegriffes schlaflose Nächte bereitet, möchte ich im folgenden unsere alltägliche Intuition, derzufolge wir wissen, was wir meinen, wenn wir "Bild" sagen, nicht weiter hinterfragen; darüber möchte ich heute nicht zu Ihnen sprechen. Wie aber steht es mit dem zweiten Wortteil? Man beachte, dass hier von Wirklichkeiten, also im Plural gesprochen wird. Gemeinhin reden wir statt dessen von der Wirklichkeit im Singular. Wirklichkeiten dagegen hat, läßt man sich diesen Begriff auf der Zunge zergehen, etwas Paradoxes. Wenn wir wissen, wie etwas wirklich ist, so meinen wir damit, wie es unabhängig von subjektiven Sichtweisen, Vorlieben, Vorstellungen, Meinungen etc. objektiv beschaffen ist. Natürlich wissen wir heute alle, dass es immer und zu allem verschiedene Sichtweisen und Standpunkte gibt und die Toleranz anderen Meinungen gegenüber gilt in unserer Kultur (zumindest offiziell) als ein hoher positiver Wert. Dennoch gehen wir alle wohl stillschweigend davon aus, dass wir letztlich lediglich ein- und dieselbe Wirklichkeit in nur jeweils unterschiedlicher Weise sehen. Was aber ist diese eine objektive Wirklichkeit, auf die sich all unsere Standpunkte, Sichtweisen und Meinungen beziehen?

Philosophen streiten über diese Frage schon sehr lange. Im folgenden möchte ich Ihnen einen kurzen Einblick in einige Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung geben, die einen sogenannten erkenntnistheoretischen Relativismus zumindest in einer moderaten Variante als die plausibelste Position nahelegen. Seine wesentlichen Aussagen bestehen darin, dass alle Erkenntnis immer a) auf das erkennende Subjekt bezogen und b) hypothetisch ist.

Wir Menschen im allgemeinen und bildende Künstler insbesondere sind hauptsächlich Augentiere. Darum möchte ich Ihnen nun etwas über Ihre visuelle Wahrnehmung erzählen, aber für die anderen Sinne gilt entsprechendes. "Sehen" ist nicht, wie bspw. die antike Eidola-Theorie annahm, ein passiver Abbildungsvorgang, bei dem sich uns ein getreues Abbild unserer Umwelt einprägt. Statt dessen ist das, was wir sehend zu erkennen meinen, eine aktive Konstruktion unseres visuellen Apparates. Unsere Wahrnehmungswelt hat in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeit mit einer wissenschaftlichen Hypothese. Insbesondere wissen wir nie, ob wir uns nicht vielleicht gerade irren.

Betrachten wir zunächst einfach den Aufbau des Auges. Wir haben auf der Netzhaut zwei Sorten lichtempfindlicher Sinneszellen. Die einen reagieren auf Hell-Dunkel-Reize und die anderen auf Farbunterschiede, wobei letztere wiederum differenziert sind in Zellen, die auf Lichtreize unterschiedlicher Wellenlänge ansprechen: In etwa Blau, Gelb und Rot. Das für Menschen sichtbare Licht aber, so belehrt uns die Physik, reicht von Rot bis Violett, ein lineares Spektrum mit Infrarot und Ultraviolett als Begrenzungen. Das wir, phänomenal gesehen, Farben als aus den drei Grundfarben zusammengesetzt und in einem Farbkreis anordenbar erleben, ist eine Folge unserer physischen Konstitution, es ist nichts, was ein Physiker an dem vom ihm untersuchten Phänomen Licht, im Sinne von elektromagnetischer Strahlung messen könnte.

Die Sehzellen ballen sich nun in großer Konzentration in der sogenannten Sehgrube, wohingegen sie in den peripheren Bereichen viel sparsamer vorhanden sind. Insbesondere finden sich hier außen kaum farbempfindliche Zellen. Der Bereich, in dem Sie scharf sehen können, ist darum außerordentlich klein. Er beträgt in einer Entfernung von 2 m nur knapp 3 cm. dass dem so ist, können Sie zuhause vor dem Bücherregal ausprobieren, indem Sie in dieser Entfernung starren Blickes überprüfen, wieviel von einem Titel auf einem der Buchrücken, Sie tatsächlich scharf erkennen können. Diese Enge fällt uns nicht auf, da unsere Augen sich andauernd und sprunghaft bewegen und so in kürzester Zeit den uns umgebenden Raum abtasten. Ich weiß nicht, wem von Ihnen schon einmal bei der Betrachtung von wackeligen, mit einer Handkamera aufgenommen Filmaufnahmen schlecht geworden ist, aber wer immer diese Erfahrung bereits machen mußte, der steht nun vor der Frage, warum uns von unseren Augenbewegungen nicht nur nicht schlecht wird, sondern wir nicht einmal etwas davon merken. Die Welt, die wir wahrnehmen ist statt dessen bemerkenswert stabil und größtenteils unbewegt. Die Antwort lautet: Die für die Steuerung der Augenmuskeln zuständigen Bereiche des Gehirn senden eine Kopie ihrer Steuerbefehle an die visuellen Zentren, die die Bewegungen dann aus dem visuellen Input wieder herausrechnen - eine überaus beachtliche Rechenleistung. Dieser Mechanismus läßt sich austricksen, wenn man bspw. seitlich mit dem Finger Druck auf den Augapfel ausübt und ihn so unter Umgehung der Augenmuskeln bewegt. Wenn Sie das ausprobieren, werden Sie feststellen, dass es nun aus ist mit der Stabilität der wahrgenommenen Welt.

Die Sinneszellen liefern nun einen Output (verzeihen Sie bitte dieses Wort, aber seine Verwendung ist in diesem Zusammenhang in der Tat hilfreich) an die Nervenzellen. Letztere sind ihrerseits so mit den Sehzellen und auch ihren Kollegen verschaltet, dass bereits auf dieser elementaren organischen Ebene des Auges bereits der visuelle Reiz gefiltert wird; Kontraste werden verstärkt, Ecken vor Kanten und Kanten vor Flächen betont. Unser Auge interessiert sich, was evolutionär betrachtet leicht verständlich ist, für Änderungen und Bewegungen. Gleichförmiger Reizeingang wird dagegen mit stetig abnehmender Nervenaktivität quittiert, mithin wie zunehmende Dunkelheit behandelt.

Eine kuriose anatomische Besonderheit unseres Auges ist es, dass die Sinneszellen hinter den Nervenzellen sitzen. Darum muß der Sehnerv erst ganz ins Auge eintreten, und die Stelle an der er dieses tut, ist unser sogenannter Blinder Fleck, da hier natürlich keine Sehzellen plaziert sein können. Wenn Sie das Bild auf dem Handzettel gemäß den dort gelieferten Anweisungen betrachten, können Sie sich davon überzeugen, dass es einen Bereich Ihres visuellen Feldes gibt, in dem Sie nichts sehen. Dieses Loch fällt nur darum nicht auf, weil es das Gehirn unter Zuhilfenahme des Gedächtnis einfach auffüllt. Die Maus ist weg, aber die Gitterstäbe bleiben. Ohne unser Gedächtnis wären wir übrigens sowieso nahezu blind - der visuelle Reizeingang ist aufgrund des kleinen Sehfeldes in dem wir scharf sehen und der ständigen abrupten Augenbewegungen so diskontinuierlich, dass nur mittels des Gedächtnisses daraus eine stabile Wahrnehmungswelt konstruiert werden kann. Heinz von Foerster schildert Fälle von Patienten mit Schußverletzungen am Kopf, bei denen von den Betroffenen zunächst keinerlei kognitive oder perzeptive Beeinträchtigungen wahrgenommen wurden. Erst Monate später klagten sie über Koordinationsprobleme ihrer Gliedmaßen auf einer Körperseite. Eine erneute neurologische Untersuchung ergab keinerlei Störungen der motorischen Zentren. Statt dessen waren weite Bereiche des visuellen Cortex in Mitleidenschaft gezogen worden. Dadurch fielen große Teile des visuellen Feldes auf der betroffenen Seite aus. Dies war den Patienten zunächst nicht aufgefallen, da ihr Gehirn die jeweils fehlenden Daten aufgrund der Augenbewegungen und mit Hilfe des Gedächtnisses ergänzte. Allerdings ging dadurch ein beträchtlicher Teil der visuellen Kontrolle über die Bewegungen des eigenen Körpers verloren, was dann zu den Koordinationsstörungen führte.

Ein weiteres gewichtiges Argument für den konstruierten Charakter unserer Wahrnehmung ist das der sogenannten Neutralität des neuronalen Codes. Die Signale der Sehnerven unterscheiden sich nämlich in nichts von denen der Hörnerven oder denen der motorischen Nerven; sie sprechen alle sozusagen dieselbe Sprache. Die spezifisch visuelle Qualität ist damit notwendig an den Ort der Signalentstehung gebunden. Reize, die vom Auge stammen, werden vom Gehirn als visuelle, Reize, die ihren Ursprung im Ohr haben, als akustische Wahrnehmung interpretiert. Reize, die dagegen die motorischen Bahnen entlanglaufen, führen zu Körperbewegungen. Stimulieren Sie Ihre Sehnerven durch Druck auf den Augapfel bei geschlossen Lidern, so sehen Sie farbige Lichter tanzen. Erhalten Sie einen Schlag auf den Kopf, dröhnt Ihnen der Schädel, da die Hörzellen durch die Erschütterung gereizt wurden. Was über die Nerven übermittelt wird ist also rein quantitativ, alle sinnliche Qualität ist eine Konstruktion, eine Annahme unseres Gehirns.

Eine Analogie mag den Vorgang des Wahrnehmens einer äußeren Wirklichkeit verdeutlichen: Wenn ein Blinder mit einem Blindenstock umzugehen übt, wird er sicherlich zunächst nur die Bewegung des Stockes in seiner Hand spüren, stößt dieser an ein Hindernis. Mit fortschreitender Übung allerdings wird er lernen, diese Stöße als Informationen über eventuelle Hindernisse zu interpretieren. Zuletzt werden sie ihm schließlich als solche gar nicht mehr bewußt, sondern er wird sie "unmittelbar" als ihm äußerliche Gegenstände erfahren; er nimmt die unterschiedlichen Stöße des Stockes in seiner Hand als Eigenschaften externer Dinge wahr. Ebenso interpretieren wir aufgrund angeborener Dispositionen wie auch erlernter Erfahrungen bestimmte neuronale Vorgänge als gesehene Dinge in unserer Umgebung. Die Erforschung der phänomenalen Gesetzmäßigkeiten nach denen diese Gliederung der durch die neuronale Aktivität vermittelten Sinnesdaten in solche externen Objekte, die sogenannten "Gestalten" vollzogen wird, ist das Arbeitsfeld der Gestaltpsychologie und ein erbauliches Resultat dieser Phänomene ist die Vielzahl verfügbarer optischer Täuschungen. Die Beschäftigung mit letzteren kann ich Ihnen nur empfehlen (z. B. die Bücher von John Frisby und von Donald D. Hoffmann).

Betrachten wir nun die weitere Verarbeitung der durch ihre Herkunft als visuell markierten Reize im Gehirn, so fällt auf, dass dieses seinen eigenen Input massiv selbst beeinflußt. Der erste größere Umschaltplatz im Gehirn, der sogenannte laterale Kniehöcker, erhält zugleich zehnmal mehr neuronalen Input vom Gehirn, als über den Sehnerv. Er verteilt dann die durch den Sehnerv übermittelten Reize auf die verschiedensten Zentren im Gehirn. Visuelle Reize werden zum Teil von hochspezialisierten Gehirnzellen weiterverarbeitet. Manche von ihnen sind nur für die Erkennung von Kanten mit einem bestimmten Neigungswinkel zuständig. Faszinierenderweise gibt es allerdings im Gehirn keinen zentralen Ort an dem all diese Details zu einem ganzen Wahrnehmungsobjekt zusammengesetzt werden - es gibt keinen Homunkulus, keinen kleinen Menschen im Kopf, der sich dieses Cartesische Theater genüßlich ansehen kann, wie Daniel C. Dennett nicht müde wird zu betonen. dass wir den Stuhl, den wir betrachten und betasten als ein Objekt erleben, beruht aller Wahrscheinlichkeit darauf, dass zeitgleich, wenn auch räumlich verteilt verlaufende Aktivitäten als zusammengehörig interpretiert werden.

Aus evolutionärer Perspektive ist es die Aufgabe unserer Wahrnehmung, das Überleben des Organismus und damit letztlich der Spezies zu gewährleisten. Das Erkennen einer wie auch immer gearteten objektiven Wirklichkeit ist demgegenüber nicht einmal zweitrangig. So ist es für eine Ziege sicherlich überlebensförderlicher fünfmal umsonst vor etwas wegzulaufen, was dann doch kein Tiger war, als einmal zu lange stehen zu bleiben, um sich zu vergewissern, ob dieses Rascheln tatsächlich von einer Raubkatze stammen könnte.

Wie schon Kant annahm, ist die Welt für uns ein Konstrukt unseres Erkenntnisapparates. Kant selbst betrachtete nebenbei bemerkt selbst Zeit und Raum als Anschauungsmodi menschlicher Wahrnehmung und nicht als Eigenschaft der Welt an sich. Über diese letztere und damit über die Wirklichkeit unabhängig von menschlichem Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen können wir seiner Meinung nach nichts Substanzielles aussagen. Die Frage, ob es diese eine objektive und für alle Erkenntnissubjekte gültige Welt an sich überhaupt gibt, ist, wie erwähnt, seither heftig umstritten. Abgesehen vielleicht von einem platten Abbildungsrealismus werden heute nahezu alle Positionen bis hin zu einem radikalen Konstruktivismus vehement vertreten.

Mit Nelson Goodman möchte ich allerdings im folgenden diese Frage für meine weiteren Ausführungen als müßig betrachten: Diese eine Welt, die als Grundlage für all unsere subjektiven Welten, Weltversionen, Weltsichten, Weltbilder und Weltkonstruktionen dient, wäre, wenn sie tatsächlich existiert, eine Welt ohne Ordnung, Eigenschaften, Perspektive und Struktur etc. und mithin recht uninteressant. Goodman meint darum auch in seinen "Weisen der Welterzeugung", dass es sich nicht lohnen würde, für oder gegen eine solch armselige Welt an sich zu streiten. Damit soll keinesfalls einem radikalen Konstruktivismus das Wort geredet werden, der sich meist doch nur selbst in Widersprüche verstrickt. Ich möchte nicht einmal behaupten, dass es keinen wissenschaftlichen Kontext gibt, in welchem die Untersuchung der Frage nach der Existenz der einen objektiven Welt sinnvoll ist. Persönlich neige ich eher einem hypothetischen Realismus zu, der zwar berücksichtigt, dass all unser Wissen nur hypothetisch sein kann, aber dennoch von der Existenz einer unseren Erfahrungen zugrundeliegenden Welt ausgeht - aber das ist fast schon eine Art Glaubensbekenntnis.

Innerhalb der hier verfolgten Argumentation möchte ich dagegen nur behaupten, dass in diesem Hause und für das hier behandelte Thema die Frage nach den Weisen der Weltenerzeugung viel interessanter ist. Damit kommen wir nun im folgenden zu dem Untertitel meines Vortrages: die Aufgabe der Kunst(pädagogik).

Wir leben in einer, zwar noch von Schrift maßgeblich geprägten kulturell geprägten, aber von Bildern immer stärker beeinflußten Wirklichkeit. Jeder der sich schon einmal mit Fotografie beschäftigt hat, weiß aber, dass selbst dieses gemeinhin als objektiv abbildend verschrieene Medium immer nur einen bestimmten Blickwinkel wiedergibt. Besonders nachdrücklich kann dieses am Beispiel der Portraitfotografie erfahren werden, wo die Beleuchtung und der Standpunkt des Fotografen gegenüber dem Abzubildenden für den Ausdruck des resultierenden Bildes wesentlich sind.

Hier in diesem Hause widmet man sich dem Studium der Kunst/Kunstpädagogik und damit dem professionellen Erzeugen, Betrachten, Interpretieren und vor allem Vermitteln von Bilderwirklichkeiten. Während die Naturwissenschaften sich auf das Konstruieren von immer und überall intersubjektiv überprüfbaren Thesen beschränken, handeln die Bildwelten der Kunst meist von subjektiv-werthaftem Erleben. Konsequenterweise verdanken die ersteren ihren immensen Fortschritt der zunehmend arbeitsteiligen Forschung und der rasant gestiegen Geschwindigkeit des Informationsaustausches, während in der Kunst die Entwicklung weg von allgemeinverbindlichen Stilen über avantgardistische Gruppenbildungen hin zur heutigen Situation geführt hat, wo es eigentlich nur einzeln oder bestenfalls wie Fischli und Weiß oder Gilbert & George zu zweit arbeitende Künstler gibt, aber keine nennenswerten Gruppen.

Sicher gibt es viele Gründe für künstlerische Betätigung: Leidenschaft, Berufung, innerer Drang, Spaß, Geld, der immer noch schillernde Status des Bohemiens und vieles andere mehr ließe sich aufzählen. Dennoch hat sich mir im Anschluß an mein hier absolviertes Magisterstudium der Kunstpädagogik immer wieder die Frage gestellt, was eigentlich die genuinen Aufgaben von Künstlern und von Kunstpädagogen in unserer Zeit sein können. Als wesentliches Resultat meiner Überlegungen hat sich herauskristallisiert, dass das Hinterfragen und Aufbrechen alter Sehgewohnheiten, das Finden neuer Sichtweisen und das Vermitteln von Bildkompetenz wesentliche Pflichten unseres Faches sind. Wie Rudolf Arnheim es bspw. auch formuliert, sind der Stil und die Sehgewohnheiten der jeweiligen Gegenwart für den Zeitgenossen meist völlig transparent und mithin nicht wahrnehmbar.

Meine Kindheit verbrachte ich bspw. in einer typischen 70er-Jahre-Wohnung in einem Komplex des berüchtigten Neue-Heimat-Konzerns: Von der Fotodekortapete im Flur über den orange-gelb-gemusterten Teppich und eine Wohnzimmertapete mit großen konzentrischen Kreisen in denselben Farben, bis hin zu dem braun-weiß-orange-gestreiften Sofa, weißen Spanplattenmöbel in sowie entsprechenden Deckenlampen war alles vorhanden, was man gemeinhin mit dem Stil der 70er verbindet. Scheinen die Fotos, die ich vor einigen Jahren wieder entdeckt habe, mir heute auch fast unerträglich krass, so war dieser Stil mir damals völlig selbstverständlich.

Auch wenn wir uns die Sichtweisen unserer gerade aktuellen Gegenwart nicht auffallen, so sind unsere Wirklichkeiten doch von ihnen geprägt. Selbst die Tagesschau wird ungeachtet ihres von mir hier gar nicht in Frage gestellten Objektivitätsanspruchs inszeniert - ein Heer von Masken- und Bühnenbildnern gestalten die visuelle Erscheinungsweise, Texter formulieren die Texte und bereits die Auswahl der mitteilungswerten Themen aus der Flut der verfügbaren Nachrichten beinhaltet eine subjektive Wertung. Damit ist auch die Tagesschau Ausdruck einer subjektiven, oder vielleicht eher kollektiv oder im Sinne Franz Koppes auch konsubjektiv zu nennenden Sichtweise. Wen daran Zweifel quälen, der möge sich einmal die Tagesschau von vor dreißig Jahren ansehen oder unsere Nachrichten mit Berichten zu denselben Ereignissen aus anderen Ländern vergleichen. Wirklichkeit läßt sich immer nur in einer jeweils bestimmten Sichtweise ins Bild setzen, daran gibt es nichts zu rütteln und das ist auch völlig in Ordnung. Kritisch wird es dort, wo eine Sichtweise zu der einzigen, objektiven Wirklichkeit, dem allgemein verbindlichen Weltbild stilisiert wird.

Als eine positive Konsequenz folgt aus diesen, auf dem, hier leider nur skizzierten, moderaten erkenntnistheoretischen Relativismus basierenden Überlegungen der Auftrag an die Künstler und Kunstpädagogen unserer Gesellschaft sich einzubringen, um unser aller Bewußtsein für die Konstruiertheit aller Bilderwirklichkeiten zu schärfen. Natürlich stehen sie nicht allein, auch die Linguisten, Sprach- und Medienwissenschaftler und viele andere Disziplinen sind aufgefordert, sich - am besten vielleicht sogar interdisziplinär - zu beteiligen. Künstler und Kunstpädagogen haben aber den Vorteil, über praktische Bildkompetenz zu verfügen: Sie wissen wie man Bilderwirklichkeiten erzeugt; für die heute vielbeschworene, aber derzeit von meist einfallslosen Technokraten erzeugte "virtual reality", dürften sie eigentlich nur ein müdes Lächeln übrig haben.

Alexander Piecha im Dezember 2001

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